Ein verheerendes Bild zu den Auswirkungen der Pandemie auf die Chormusik im deutschsprachigen Raum zeichnete im vergangenen Jahr eine Studie unter Leitung von Prof. Dr. Kathrin Schlemmer, die an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt (KU) die Professur für Musikwissenschaft innehat. Um herauszufinden, wie es den Chören ein Jahr später geht, wurde die Befragung nun in diesem Frühjahr wiederholt. Wie die Auswertung zeigt, hat sich die Situation hinsichtlich Mitgliederzahlen und Finanzen zwar etwas stabilisiert, aber auch dieser Teil der Musikkultur leidet gewissermaßen an Long-Covid. Jeder fünfte Chor probe nach wie vor nicht. Im Nachwuchsbereich sei zudem häufig ein Wiederaufbau von Ensembles nötig, die in Folge der Pandemie keine Kinder und Jugendliche hätten werben können. Die Ergebnisse der neuen Online-Befragung sind nun in der aktuellen Ausgabe der „neuen musikzeitung“ (nmz) veröffentlicht worden. Ko-Autoren der Erhebung sind erneut Kirchenmusikdirektor Tobias Brommann (Dramaturg der Europa Chor Akademie Görlitz), Prof. Jan Schumacher (Universitätsmusikdirektor, Goethe-Universität Frankfurt/Main) sowie Ester Petri und Dr. Johannes Graulich, die den im Bereich Chormusik führenden Stuttgarter Carus-Verlag leiten. Neu im Erhebungsteam ist Susanne Lotter (Studentin der KU im BA „Angewandte Musikwissenschaft und Musikpädagogik“).
Rückläufige Mitgliederzahlen, finanzielle Sorgen und Nachwuchsprobleme – dies waren die zentralen Befunde der ersten Erhebungswelle für die ChoCo-Studie („Chöre in Coronazeiten“) aus dem März 2021. Vor allem der Nachwuchsbereich bereitete Professorin Schlemmer und ihren Ko-Autorinnen und –Autoren damals Sorgen. Denn dieser unterliegt ohnehin einer größeren Fluktuation als Chöre mit Erwachsenen. „Bei den Mitgliederzahlen lässt sich eine leichte Stabilisierung dahingehend feststellen, dass weniger Chöre als 2021 angaben, gar keine Mitglieder mehr zu haben. Dies gilt auch für die Kinder- und Jugendchöre, obwohl sich auch im zweiten Pandemiejahr deren Situation schlechter darstellt als die der Gesamtheit aller befragten Chöre“, erklärt Professorin Schlemmer. Jedoch stehe diese Feststellung unter dem Vorbehalt, dass sich Chöre, die auch im zweiten Jahr der Pandemie keine Mitglieder mehr haben, möglicherweise nicht erneut an der Befragung beteiligt hätten. Während es 2021 noch über 4600 Rückmeldungen zu der Erhebung gab, zählten die Forschenden dieses Mal rund 1000 Teilnehmende. Professorin Schlemmer erklärt: „Das könnte einerseits daran liegen, dass die mediale Berichterstattung im Frühjahr 2022 angesichts des Ukraine-Krieges weniger stark auf Corona fokussiert war, andererseits aber auch ein Effekt der Wiederholung sein, da die wesentlichen Probleme bereits bei der ersten Umfrage benannt wurden.“
Auch im Frühjahr 2022 waren unter den Befragten knapp ein Viertel der sonst aktiven Chormitglieder nicht aktiv, das ist dieselbe Größenordnung wie 2021 und bedeutet, dass die meisten Chöre ihre ursprüngliche Mitgliederzahl noch nicht wieder erreicht haben. Die Prognose für die Mitgliederzahlen nach der Pandemie falle 2022 etwas optimistischer aus als ein Jahr zuvor, auch wenn ein Anteil von acht Prozent der Chöre verbleibe, die mit einem dauerhaften und deutlichen Mitgliederverlust rechnen. „Die Daten unserer zweiten Erhebung weisen auf eine vorsichtige Erholung hin, aber nicht in dem Sinne, dass es so ist wie vor der Pandemie. Das sehen wir in fast allen Bereichen: Bei den Mitgliederzahlen ist die Situation etwas besser, aber nicht gut. Bei den Finanzen sind die Chöre etwas optimistischer, aber die Lage ist vielfach noch prekär, so dass manche ihre freiberuflichen Chorleiter nicht mehr bezahlen können“, so Professorin Schlemmer.
Ein positives Ergebnis der Folgestudie stelle das verbesserte musikalische und mentale Befinden der Chormitglieder dar. Offenbar sei die Erleichterung groß, dass die als absolute Ausnahmesituation empfundenen Lockdowns vorerst vorbei und das gemeinsame Singen wieder erlaubt sei. Gerade Kinder- und Jugendchöre gelte es, nun zu fördern, da sie in vielen Fällen vor einem kompletten Wiederaufbau stünden. Vor diesem Hintergrund fordert ein Großteil der befragten, das Singen in der Schulklasse zu fördern, um Geschmack auf Mehr zu machen. Als Nadelöhr könne sich hier jedoch Mangel an entsprechend pädagogisch ausgebildeten Kräften erweisen sowie der Fokus auf den Nachholbedarf in Hauptfächern. Eine gute Nachricht sei es, dass der Bund die Amateurmusik auch weiterhin finanziell fördern wolle.
Ein ausführlicher Beitrag zur ChoCo-Studie ist in der „Neuen Musikzeitung“ (nmz) erschienen und unter www.nmz.de/choco abrufbar. (upd)